Vorträge 2012

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Freitag

Dr. Angelica Ensel

Weltkulturerbe normale Geburt – Wertewandel braucht Bewegung

Vor 30 Jahren haben sich die Frauen gegen demütigende Routinen und schädigende Intervention beim Gebären gewehrt. Gemeinsam mit den Hebammen haben sie entscheidende Veränderungen in der deutschen Geburtshilfe eingeleitet. Heute haben unsere Kreißsäle Wellnesscharakter und die Frauen sind Kundinnen. Nur das Gebären ohne Interventionen wird immer seltener. Die klinische Geburtshilfe heute ist von Medikalisierung und Pathologisierung geprägt. Bei einer Kaiserschnittrate von mehr als 30 Prozent, einer hohen Zahl von Geburtseinleitungen und zahlreichen Interventionen ist die normale Geburt ohne jegliche Eingriffe die absolute Ausnahme. Viele unterschiedliche Entwicklungen haben zu einer zweiten Phase der Technisierung der normalen Geburt geführt. Kann es einen Wandel geben? Welche Entwicklungen brauchen wir? Und welche Werte legen wir an? 

Monika Brühl

Schwangerschaft – der Weg zur Geburt aus eigener Kraft

Eine Geburt aus eigener Kraft und damit auch stärkende Geburt erleben immer weniger Frauen – nicht zuletzt dank der heute üblichen Schwangerenvorsorge und Geburtsmedizin. Es bedarf einer festen Entschlossenheit, einer guten Portion Selbstvertrauen, einem tiefen Verständnis der heutigen Entscheidungsnöte und sicherer beruflicher Kompetenz, um Schwangere und ihre Angehörigen heute konsequent so zu begleiten und vorzubereiten, dass ihre Fähigkeit zur Geburt aus eigener Kraft nicht verloren geht, sondern sich entwickeln und entfalten kann. Hebammenbetreuung, -vorsorge und Geburtsvorbereitung, in der die Pflege und die Förderung der physiologischen Schwangerschaft und Geburt im absoluten Mittelpunkt stehen, kann das leisten. Die natürliche Gebärfähigkeit hier und heute und für die nächsten Generationen zu erhalten ist eine wichtige und liebenswerte gesellschaftliche Aufgabe.

Ina May Gaskin

Gebären funktioniert. Haben wir das vergessen?

In den 1970ern, als Ina May Gaskin anfing, sich mit dem Thema Gebären zu beschäftigen, war es in den USA gerade modern, zwei Drittel aller Frauen per Forceps zu entbinden. Ähnlich wie heute, in einer Zeit hoher Sectioraten, war es auch damals an der Zeit, dass sich die Geburtshilfe verändert. Der Blick auf die Frauen, auf ihre Gebärfähigkeit musste infrage gestellt werden. Als Ina May Gaskin 1971 eines der ersten außerklinischen Geburtszentren in den USA gründete „The Farm Midwifery Center" wurde ihr und ihren Kolleginnen die Bedeutung des Beobachtens und des Begleitens statt des Anleitens bewusst. Daraus entstand eine Geburtshilfe, die die Fähigkeit der Frauen, ihre Kinder zu gebären, in den Vordergrund stellt. Zu den Erkenntnissen, die durch die enge Begleitung und den Austausch mit den Frauen entstanden sind, gehört die Einsicht, dass es keinen Grund gibt, die Geburt mit Zeitvorgaben zu belegen, und zu verstehen, dass Bewegung eine Voraussetzung für einen sicheren Geburtsprozess ist – all das in einer Zeit, in der die operative Geburt in Rückenlage das „Normale" war. Ina May Gaskin bringt einen Schatz an Hebammenwissen mit – und eine Kraft und einen Willen, die Geburtskultur im Sinne einer positiven, stärkenden Lebenserfahrung zu verändern.

Prof. Dr. Christiane Schwarz

Die wissenschaftliche Erlaubnis zum Nichtstun

Wir alle haben noch den Wohlklang der Zitate diverser weiser Geburtshelferinnen und Geburtshelfer im Ohr: dass wir viel wissen müssen, um wenig zu tun; dass wir uns in der Kunst der meisterlichen Zurückhaltung üben sollten, statt Frauen beim Gebären zu stören. Trotzdem scheint diese einfache Weisheit im Alltag unserer Kreißsäle nicht durchweg angekommen zu sein. Bei fast allen Geburten wird interveniert, gemanagt, optimiert. Als Begründung dient – wenn überhaupt – der Gewohnheitseffekt „Das haben wir schon immer so gemacht" oder die diffuse Annahme, schneller sei besser oder viel hilft viel. Tatsächlich ist es aber so, dass viele Interventionen, die häufig oder sogar routinemäßig zur Anwendung kommen, gar nicht auf wissenschaftlich begründeten Erkenntnissen beruhen. Etliche Maßnahmen haben sogar das Potenzial, den Frauen und Kindern mehr zu schaden, als ihnen zu nutzen, wenn sie unangemessen zum Einsatz kommen. In diesem Vortrag geht es darum, wie wir Forschung nutzen können, um das Nichtstun zu begründen.

Tara Franke

Geburt in Bewegung – die Kräfte nutzen

Viel wurde in den vergangenen Jahrzehnten zu den Auswirkungen unterschiedlicher Gebärhaltungen geforscht und dennoch finden die Ergebnisse wenig Eingang in die tägliche Praxis. Allein die verschiedenen Faktoren, die die Bewegungsfreiheit der Frau beeinträchtigen und ihre Wahl der Haltung während der Geburt beeinflussen, sind zahlreich – und werden häufig weder von der Frau noch von der Hebamme bewusst wahrgenommen. Beispiele zeigen, was im Alltag häufig übersehen wird. Neue Erkenntnisse zur Geburtsmechanik und Muskulatur verändern die Sichtweise auf den Geburtsprozess und zeigen, wie notwendig die Bewegung während der Geburt ist. Tara Franke gibt einen Einblick in den aktuellen Stand der Evidenzen und zeigt auf, warum es nicht darauf ankommt, eine besonders vorteilhafte Position zu ermitteln, sondern dass Bewegung und der Wechsel der Haltungen ausschlaggebend sind. Auch die aktuellen Ergebnisse zu den Wünschen und Bedürfnissen gebärender Frauen werden beleuchtet.

Samstag

Dr. phil. Beate Ramsayer

Die normale Geburt in der Klinik

Indem das geburtshilfliche Team während einer gesunden Geburt auf überflüssige Interventionen verzichtet, unterstützt es den normalen Geburtsprozess und macht die Geburt so sicherer. Sich zurück zu halten und nicht unnötig in den Geburtsverlauf einzugreifen ist dabei nicht gleichbedeutend mit einem pauschalen Verzicht auf Interventionen. Es geht darum, den Blick zu schärfen: Wann ist ein bewusstes Eingreifen wirklich erforderlich und wie kann eine normale Geburt durch eine gekonnte Nichtintervention sicherer werden? Tatsache im aktuellen Klinikalltag ist, dass eine normale Geburt nach einer normalen Schwangerschaft in deutschen Kliniken die Ausnahme ist. Das fordert zu einem Umdenken heraus, da eine „normale Geburt" häufig nicht dem entspricht, was im klinischen Alltag als Normalität erlebt wird. Es geht darum, wie eine gesunde Schwangere vor, während und nach der Geburt in der Klinik begleitet werden kann, während sie ganz normal ihr Kind auf die Welt bringt.

Dr. med. Wolf Lütje

Immer mehr Kaiserschnitte: Was können wir konkret dagegen tun?

Die Industrialisierung und Kultivierung der Geburt schreitet fort – das Hauptsymptom dieser Entwicklung sind weltweit steigende Kaiserschnittraten. Es gilt das Rad der Zeit zurückzudrehen. Aber wie? Wie sehen im nationalen und internationalen Vergleich die jeweiligen Rahmenbedingungen aus, die offenbar unterschiedliche Sicht- und Handlungsweisen nach sich ziehen? Und wie steht es um die Motivation von Frauen und Männern sowie den Anbietern im Gesundheitswesen? Nicht zuletzt thematisiert Dr. Wolf Lütje den Dreh- und Angelpunkt aller Veränderung: Die Kommunikation! Wie können die Frauen vor dem Hintergrund der Evidenz so aufgeklärt werden, dass sie eine Entscheidung treffen können? Das frühzeitige Auftreten engagierter Hebammen und Geburtshelfer noch vor Beginn der Elternschaft, ihr stetes auch wissenschaftliches Ringen um den Sinn und die Chance des Gebärens und ihr Bemühen um den Erhalt und die Weiterentwicklung geburtshilflichen Könnens sind der Schlüssel, den Kaiserschnitt wieder zu dem zu machen, was er ist: eine gute Option in eher seltenen Notfällen.

Roland und Katharina Wirzbinna

Frauen zu Wort kommen lassen

Wie erleben Frauen die Geburt? Dieser Frage geht der Dokumentarfilm „Ozean der Emotionen – Geburtsmomente" nach. Frauen berichten darin von ihren individuellen Geburtserlebnissen: von der Hausgeburt bis zum Kaiserschnitt; von den Vorstellungen und Wünschen bis hin zur Realität. Wie weitreichend die Folgen eines negativen Geburtserlebnisses für eine Familie sein können, wie wichtig es also ist, werdende Mütter aufzuklären und – vor sowie nach der Geburt – einfühlsam zu begleiten, wurde den Filmemachern während der Dreharbeiten und in ihren Recherchen immer deutlicher bewusst. „Darum ist es unser Wunsch, Frauen mit unserem Dokumentarfilm zu einem möglichst guten, selbstbestimmten und für sie stimmigen Geburtserlebnis zu verhelfen, egal wo sie gebären." Die Filmemacher stellen Auszüge aus dem Film vor und berichten über die einzigartigen Eindrücke und Emotionen, die sie während der Dreharbeiten erlebt haben.

Wiebke Schrader

Frauen stärken: Die Sectio-Sprechstunde

Im Perinatalzentrum Henriettenstiftung Hannover wurde vor vier Jahren das verpflichtende Beratungsgespräch für Frauen mit Wunschsectio eingeführt. Ein Gespräch, das ihnen von der leitenden Hebamme frühestmöglich angeboten wird, damit sie bei Bedarf einen Folgetermin in Anspruch nehmen können. Viele Frauen entscheiden sich nach dem Gespräch für eine spontane Geburt. Das Konzept und damit das Ziel, die Sectio-Rate zu senken, geht auf: Das Gespräch im geschützten Raum, die Zeit, sich auf das Gespräch vorzubereiten, und die sachlichen Informationen ermöglichen es den Eltern, eine informierte Entscheidung zu treffen und sich auf die Vorstellung einer spontanen Geburt einzulassen.

Tatjana Parisi

Hebammenkunst bewahren: Die spontane Beckenendlagengeburt

Das St.-Marien-Hospital in Bonn begleitet seit 200X wieder spontane Beckenendlagengeburten. Zu Beginn dieser bewussten Entscheidung stand die Frage, was überhaupt dazu geführt hat, dass die spontane Beckenendlage aus den Kreißsälen verschwunden ist. Es folgte die Frage, wie das Team den Mut finden kann, das alte Wissen heute wieder umzusetzen. Das Konzept ging auf. Im Jahr 2010 haben rund 80 Frauen ihr Kind in Beckenendlage im St.-Marien-Hospital spontan geboren. Heute steht – neben dem Anspruch einer optimalen Betreuung – die Frage im Raum, wie Frauen und Paare gestärkt werden können, sich für eine spontane Beckenendlagengeburt zu entscheiden.

Dr. Maike Frauen | Gunda Wolter

Geht doch: 1:1-Betreuung

Im Elbe-Klinikum Buxtehude ist die 1:1-Betreuung seit Jahrzehnten gelebte Kultur. Elf Beleghebammen begleiten rund 800 Geburten im Jahr. Die Frauen profitieren von der Kontinuität der Betreuung durch eine Hebamme – von der Geburt, über die Besuche auf Station bis hin zur Wochenbettbetreuung zu Hause. Die Geburtshilfe ist geprägt von einem guten Geist der Geduld, des Abwartens und des Vertrauens in die Gebärfähigkeit der Frauen. Ein Ansatz, der von den ÄrztInnen mitgetragen wird. Das Resultat: Eine Geburtshilfe mit vergleichsweise wenig Interventionen, wie die Sectio-Rate von 17 % zeigt.

Sarah Braun | Enno Heine | Agnes Ostern | Hilke Schauland

Frauen begleiten, normale Geburten fördern

Die Philosophie der Geburtshilfe im Evangelischem Krankenhaus Oldenburg resultiert aus einem jahrelangen Prozess des miteinander Lernens. Dazu gehören die Einrichtung einer Elternschule, gemeinsame Fortbildungen, Erfahrungsaustausch im Team sowie Wertschätzung und Respekt der Berufsgruppen. Das geburtshilfliche Team ermutigt die Schwangeren, sich während der Geburt zu bewegen: stehen, gehen, hocken, im Vierfüßler, das Becken kreisen, am Seil hängen als punctum fixum. Die Frauen werden darin bestärkt, ihre eigenen Kräfte zu entfalten. Die Frauen zum bewussten Atmen zu motivieren, aufrechte Gebärhaltungen auszuprobieren, zu tönen, im Wasser zu gebären und das geduldige Abwarten senkte die Episiotomierate von 43 % im Jahr 2000 auf 8 % im Jahr 2010.

Agnes Meyer

Ein starkes Team – ein Modell mit Beleghebammen und angestellten Hebammen

Das Borromäus-Hospital in Leer betreut jährlich 600 Geburten. Das Hebammen-Team besteht aus elf Kolleginnen im Schichtdienst und sieben Beleghebammen. Zusätzlich zu den Diensten im Kreißsaal machen die angestellten Hebammen vormittags auf der Wochenstation Hebammenvisiten. In einem Prozess, in dem sich die Hebammen viel ausgetauscht haben, hat sich eine Struktur entwickelt, in der sich die angestellten und Beleghebammen als Team verstehen, sich gegenseitig unterstützen – und versuchen, den Frauen soweit möglich eine 1:1-Betreuung zu bieten.